Warten am Nullpunkt

Auf die Frage, was die Zukunft wohl bringen wird, antworten viele Zeitgenossen wohl nicht mit erfreulichen Erwartungen – und es scheint, dass sie dazu ja allen Grund haben. Auch die Medien überbieten sich Tag für Tag in der Dramatik der Darstellung und geben dadurch dem inneren Dramaturgen, der in jedem Menschen lauert, reichlich Stoff. Nüchterne Fakten emotional anzureichern und daraus fast schon ein Weltuntergangs-Szenario zu gestalten, dieses Talent scheint irgendwie zum Menschsein dazu zu gehören.

Natürlich sind die momentanen Ereignisse dazu angetan, im kollektiven Bewusstsein die Not vergangener Zeiten wieder lebendig werden zu lassen. Gerade bei älteren Menschen lebt die Erinnerung an selbst erlebte Kriegszeiten auf, und sie leiden darunter. Dazu kommt die Ohnmacht in der Frage, was ich jetzt tun soll, ob ich überhaupt etwas tun kann im Angesicht eines unerlösten Auseinander-Driftens, das sich bereits in vielen gesellschaftlichen Gruppierungen abzeichnet. Ist Resignation die einzige Lösung?

Der Advent verdammt nicht zum Warten: Er lädt dazu ein. Wenn wir uns in guter innerer und äußerer Haltung setzen, werden wir selbst zum Symbol des Nicht-Machens, der Erwartung. Dies kann bereits Teil einer Antwort sein, gerade wenn die Ver-zweif-lung zu siegen droht. Aber auch in der Stille ist es ja oft, als ob da vor mir eine eiserne Wand wäre, als ob ich eingezwängt wäre in ein Nicht-mehr-zurück-können und Nicht-wissen-wie-es-weitergeht. Manchmal fühlt es sich an wie ein Nullpunkt. Es ist nicht angenehm dort, eher zum Weglaufen, und doch: Warten, Aushalten lohnen. Denn gerade hier, am Nullpunkt, kann etwas Neues beginnen.

Es ist wie mit dem Atem. „Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, üben Sie das Ausatmen“, sagte mir kürzlich eine Therapeutin. Wie wunderbar – etwas üben, das mir sozusagen eingeboren ist, dem ich bisher zu wenig Aufmerksamkeit schenkte und das gegenüber dem Einatmen „zu kurz kommt“ aus Angst, der Atem könnte mir stocken! Und wenn ich wirklich einmal, ohne einzugreifen, ganz ausatme, den Atem gehen lasse, dann werde ich merken, dass da nicht sofort das Einatmen kommt, sondern eine (kleine? große?) Pause entsteht. Da ist nichts. Null. Pures Warten. 

Diese Pause passt zum Thema des Wartens. Vielleicht muss ich das „Nichts“, den „toten Punkt“, immer wieder gründlich kosten, um fähig zu werden, das zu empfangen, was ich mir nicht ausgedacht habe. Solange ich alles unter Kontrolle habe, hält sich meine Erwartung in Grenzen: Was soll ich schon bekommen, wenn ich fast alles habe? Habe ich nichts, habe ich mein eigenes Nichts gespürt, dann kann Großes an mir geschehen.

Advent und Weihnachten gründen im jüdisch-christlichen Glauben daran, dass Gott „nachtaktiv“ ist, dass er handelt, wo eigentlich nichts mehr zu erwarten ist, wo fast alle Hoffnung gestorben ist. „Mehr als die Wächter auf den Morgen wartet meine Seele auf Gott“, heißt es in einem bekannten Psalm. Und in der Christmette im Dunkel der Heiligen Nacht erklingen die Worte: „Das Volk, das im Finstern lebt, sieht ein helles Licht.“ Sowohl in den alt- wie neutestamentlichen Geschichten spielen Menschen die Hauptrolle, die auf eine rational nicht erklärbare Weise Großes erwarten vom unendlichen Gott.

Worauf also warten wir? Auf mehr als wir denken, begreifen können. Und – das Warten ist es schon. Denn darin bin ich Teil der auf Frieden, auf Erlösung wartenden, der nach Heimat ausschauenden Menschheit. In der täglichen Übung begebe ich mich immer wieder neu in die Bereitschaft, dass „es geschehen“ kann. Dass durch alle Not und alles Leid dieser Zeit eine neue Schöpfung geboren werden kann – wie ein neuer Atem, der alle und alles durchflutet.

Das wünsche ich Ihnen für die kommenden Tage – dass wir, inspiriert durch das Sitzen in der Stille, unsere Seele weit machen. Dass Platz darin ist für alle und alles, was sich am Nullpunkt weiß und sich nach Neuwerden ausstreckt. Und wenn Sie gemeinsam sitzen – zu Hause, in Ihrer Gruppe, in Zazenkais oder einem Sesshin – dann wird das gemeinsame Schweigen zu einem starken und stärkenden Zeichen des Unsagbaren, das allen zuteil werden soll.

Herzlich verbunden
P. Paul

Fotos Inge Hausen-Müller