“Verwurzelung” …

… ist der Titel einer Schrift, welche die spanische Zen-Lehrerin Schwester Annemarie Schlüter im vergangenen Jahr verfasste. Darin kommt sie auf die weit verbreitete Verunsicherung zu sprechen, die durch die Corona-Zeit viele Menschen in eine existentielle Krise stürzte. Sie deutet diese Existenzangst als Symptom der Wendezeit, die zu einem neuen, universalen Bewusstsein führen will und die bereits P. Lassalle und Yamada Roshi in ihrer Bedeutung erkannten. Die Geburt unseres Programms vor nunmehr 50 Jahren hat grundlegend seine Wurzeln von diesem Motiv, das auch in P. Johannes lebendig war.
In diesen Tagen wird sich so mancher Mensch fragen: Scheitern wir auf diesem Weg oder führt er uns durch eine globale und humanitäre Katastrophe hindurch? Sind wir dafür genügend verwurzelt? Ist unsere Praxis der Meditation ernsthaft genug?

Schwester Annemarie kritisiert in ihrem Buch die weit verbreitete, oberflächliche Übernahme von buddhistischen Praktiken wie etwa Achtsamkeits-Trainings, weil diese oft nur mit dem Ziel eigenen Wohlbefindens eingesetzt und dazu instrumentalisiert werden, den Menschen für Arbeit und Gewinn „gesund zu erhalten“. Sie führen jedoch letztlich nicht zu der bitter notwendigen Verwurzelung im Absoluten und zu einer ganzheitlichen „Umkehr“, die als Frucht aus diesen Wurzeln erwächst.
Mehr denn je enthüllen die Worte: „Leben und Tod sind ernste Dinge“ ihre Bedeutung. Sie laden Meditierende dazu ein, keinen Unterschied mehr zu machen zwischen Leben und Tod, eins zu werden mit dem „Stirb und Werde“ der ganzen Schöpfung. Für Christen, gerade in dieser Zeit auf Ostern hin: mit Christus zu sterben und in ihm zu leben. In einem Koan heißt es sinngemäß: Wenn du dieses Eins-Sein erfahren hast, „dann weißt du, wohin du gehst. Wohin also gehst du, wenn alles zerfällt?“.
Wohin gehst du? Ja, es geht um das Gehen; um das Realisieren, das Verwirklichen des Erfahrenen. In den Sesshins spüren die Teilnehmer immer wieder den Grund an, der tragend hält. In der Wahrnehmung des Grundes, der immer da ist, wächst mitten in Zweifel und Verunsicherung die Pflanze Vertrauen. Und mit jedem neuen Schritt, den wir aus dieser Haltung des Vertrauens gehen, machen wir uns eins mit den Menschen, für die jetzt wirklich alle Elemente zerfallen, die durch die Katastrophe des Krieges einen Weg suchen. Und jeder so vollzogene Schritt kann ein Beitrag sein, dem Frieden eine Chance zu geben. Und jeder so vollzogene Schritt wird dazu bereiten, auch ganz real die Hilfe zu geben, zu der ich gefragt und fähig bin.

Der Rückzug in die Stille allein ist es nicht: Die christliche Tradition der „heiligen 40 Tage“ kennt von alters her das Miteinander von Gebet (Kontemplation) und Nächstenliebe (Caritas) als wesentliche Elemente der Fastenzeit. Die Begegnung mit Jesus Christus in seiner Lebenshingabe am Kreuz und die Begegnung mit Jesus Christus in seiner Gegenwart im jetzt und hier präsenten Menschen gehören zusammen, sind nicht zu trennen. Das gilt freilich für beide Seiten: Ohne die Praxis der Versenkung in der Stille „allen Ernstes“ werden Atemlosigkeit, Ängste, Sorgen um das eigene Ich und andere ego-gesteuerte Reaktionen die Oberhand gewinnen. Die Wurzeln werden dem Sturm dieser Zeit nicht standhalten. Und ohne „Zen im Alltag“, die Umsetzung des Erfahrenen im jeweils „nächsten Schritt“ würden wir auf halbem Wege stehen bleiben, taub und stumm für das Geheimnis des Lebens jetzt und hier.
Ich möchte diesem Impuls noch zweierlei anschließen: die Einladung, sich den jetzt glücklicherweise wieder in Präsenz stattfindenden Meditationszeiten anzuschließen – sei es als Teilnehmer, Teilnehmerin oder geistig. Denn, das hat die durch die Pandemie auferlegte Distanz deutlich gemacht: Wir brauchen die Erfahrung des gemeinsamen Sitzens. Es ist wahr: Nicht allein vom Brot lebt der Mensch.
Wir brauchen einander. Die Praxis der Zen-Kontemplation will nicht in eine individualistische Vereinzelung führen. Deswegen möchte ich Sie nochmals auf die Chance der Begegnung beim Ausflug unseres Programms nach Erfurt, nach Buchenwald und zur Wartburg am Wochenende von Fronleichnam hinweisen. Das Programm wird derart gestaltet sein, dass Stille, Austausch, spirituelle Impulse und auch freie Zeit sich gut ergänzen.
Ich wünsche Ihnen einen vertrauensvollen Weg durch turbulente und leidvolle Tage, Schritt für Schritt.
P. Paul
