Ver-Geben
Wir begleiten Sie in die Stille – heißt es auf unserer Homepage, die im Laufe dieses Jahres ein neues Gewand bekommen soll. Viele Menschen haben Angst vor der Stille, dem Nicht-Lauten; vielleicht, weil sie intuitiv wissen, dass sie darin mit Altlasten des Lebens, mit Ressentiments, Vorwürfen, Anklagen und Verletzungen konfrontiert werden. All dies lässt sich ja nicht einfach „weg-schweigen“.

Gleichzeitig gilt: Wir sind dem gegenüber nicht machtlos! Es ist wie mit körperlichen Schmerzen. Ich brauche den Mut, mich ihnen liebevoll zuzuwenden und, das ist in der Stille eine wunderbare Möglichkeit, hinein zu atmen. Oftmals verändert sich dadurch schon etwas: Auch wenn vielleicht der Schmerz nicht weg ist, verliert er seinen aggressiven, mir entgegen stehenden und damit „störenden“ Charakter. Der Atem ist eine Kraft, ist Balsam, ist Veränderungs-Potential. Es ist gut, sich dies einmal wieder neu in Erinnerung zu rufen, gerade jetzt im Vorfeld von Pfingsten, der Feier des Atem-Geistes Gottes in uns.
Der Atem ist Gabe: Darin empfängt sich und gibt sich der Mensch. Von Gabe und Geben weiß auch das schöne Wort „Ver-Gebung“. Das lateinische Wort für „Gabe“ = „Donum“ steckt auch im französischen „Pardon“ genau wie im englischen „forgive“ und im italienischen „perdono“. Im Verzeihen gibt sich der Mensch, gibt sich hinein in das Leben, löst entstandene, Schmerzen verursachende Spannungen und Knoten auf. Die Autorität dazu ist schlicht und einfach durch das Mensch-Sein gegeben: sich selbst und anderen zu vergeben ist eine reale Möglichkeit, zunächst einmal unabhängig davon, ob ein Mit-Mensch dies annimmt, erwidert oder nicht.
Der auferstandene Jesus Christus haucht (nach Johannes Kapitel 20) seine Jünger an und trägt ihnen auf, dass sie Schuld vergeben, lösen, befreien sollen. Ich verstehe als Adressaten dieses Auftrags nicht nur die kirchlichen Amtsträger, ich verstehe diesen Auftrag an jeden Christen und darüber hinaus gerichtet. Wie viel Gutes kann geschehen, wenn Meditierende sich dieser „Sendung“ bewusst sind und anfangen, die eigenen Verletzungen anzuschauen und zu vergeben: angefangen mit der Vergebung bei sich selbst bis hin zu den Mitmenschen, die vielleicht aus dem eigenen Lebenshorizont verdrängt wurden, weil (manchmal ur-alte) Vorwürfe im Raum des Bewusstseins stehen geblieben sind.
Mit diesen Menschen eins zu werden ist vielleicht schwerer, als das nächste Koan zu lösen. Gleichzeitig ist oft die Konsequenz, dass das Sitzen tiefer und friedvoller wird, der Blick klarer. Und vielleicht ist damit auch der Grundstein dafür gelegt, dass es irgendwann zu einem Gespräch, einer Begegnung kommen kann, die das Geschehene noch einmal in ein neues Licht rückt.
Keinesfalls möchte ich durch diese Zeilen leugnen oder verharmlosen, was wir Menschen einander antun, welche Verletzungen wir uns zufügen können. Und manchmal wird es auch fachlicher Hilfe bedürfen, daran zu arbeiten. Das Sitzen in der Stille setzt jedenfalls Kräfte frei, in eigener Vollmacht aus der Opferrolle hinauszugehen. Denn es kann nicht zur menschlichen Bestimmung gehören, ein Leben lang von in der Vergangenheit Geschehenem sich blockieren zu lassen; sich beeindrucken zu lassen von den inneren Stimmen, die immer wieder Urteile fällen, über andere und über mich selbst.
Diese Urteile loszulassen – das ist ein Ver-Geben, ein Sich-Geben, ein Lassen und Annehmen im Atem. Es ist Geschenk und zugleich menschliche Möglichkeit, es zuzulassen. Dass dies geschehen möge, wünsche ich uns herzlich – gerade jetzt in der Zeit, da an den kommenden Feiertagen wieder viele von uns sich dem Schweigen überlassen werden: Christ Himmelfahrt und Fronleichnam in Meschede, Pfingsten in Rom und Vallendar sind wir verbunden.
P. Paul
