Stets von Neuem zu uns selbst

roselofii1_01

In Tagen der Stille werden Worte Wege – “stets von Neuem zu uns selbst“. Wir sehen uns selbst
bei Sonnenaufgang“.
Die in Anführungszeichen gesetzten Worte entnehme ich einem Gedicht von Hilde Domin, das mir ein Erlebnis von Herzberührung vermittelt. Ich fand es vor einigen Tagen und erlebe es so ungeheuer schön und richtig und treffend und tröstlich und aktuell, dass ich es hier vorstellen möchte als ein ganz anderes Gedicht zum Frühling:

Bitte
Wir werden eingetaucht und
mit dem Wasser der Sintflut gewaschen.
Wir werden durchnässt
bis auf die Herzhaut.

Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht.
Der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten,
der Wunsch, verschont zu bleiben,
taugt nicht.

Es taugt die Bitte,
dass bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe.
Dass die Frucht so bunt wie die Blüte sei,
dass noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden.

Und dass wir aus der Flut,
dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
– immer versehrter und immer heiler –
stets von Neuem
zu uns selbst
entlassen werden.

Jede Zeile empfinde ich wie einen Blick von hohem Berg über eine weite Erlebnislandschaft, so klar und in einem Licht, das alles sein lässt, wie es ist, und doch alles neu Gesehene zeigt in Schönheit und unermesslichem Wert – wie vergoldet.
Ich käme mir anmaßend vor, Ihnen das Wunderbare mit meiner Erlebnisbrille vermitteln zu wollen. So möchte ich lieber bitten: Nehmen Sie sich fünf Minuten Zeit oder vielleicht auch mehr und lassen Sie sich von der Dichterin selbst in ihre große Trostvision hineinnehmen.

In zwei Zeilen möchte ich mit ihnen das Gemeinsame fühlen:
Dass die Frucht so bunt wie die Blüte sei
Frühling vorbei – Schönheit verwelkt – aus der Traum. Und nun dieser Blick: Die Frucht lockt nicht mit Schönheit, sie beschenkt vielfarbig anders: Mit Genuss, mit Freude, mit Sättigung, in der sie das  Leben nährt. Die “Frucht so bunt wie die Blüte” auch im Alter, in den veränderten Werten der Jugend – nicht geringer, “bunt wie die Blüte” – bunt in der Reifung zu ihrem vielfältigen höchstwertigen Sinn.

dass noch die Blätter der Rose am Boden eine leuchtende Krone bilden
Hilde Domin hat viele Menschen in ihrem Sterben begleitet. Ein wunderbares Menschenleben liegt nun da wie “die Blätter der Rose am Boden“. Sie erkennt und erfährt die Wandlung im Tod und bezeugt “dass noch die Blätter der Rose am Boden eine leuchtende Krone bilden“. Sie sieht die leuchtende Krone, gebildet im wechselvollen geheimnistiefen Leben, von Lieben und Leiden, von Suchen und Finden, von Sehnsucht und Erniedrigung, von Zerfall und Auflösung – bis zum Staub.

Mit welch ungeheurer Wortmacht lässt sie das Licht aufleuchten in dieser Finsternis, in die unsere menschliche Wahrnehmung und die Vergeblichkeit unserer Sinnsuche sich hineingerissen sehen im Tod. Noch mehr wie im eigenen Tod im Tod eines geliebten Menschen. Dass solche Worte überhaupt gesagt werden können, ist ein Trost für die Menschheit. Ich meine, diese Worte haben sich gebildet im Trost der Tränen, jenseits “der Tränengrenze“. Und so – und auch nur so – werden Sie zur Herzberührung.

Dies ist  ein ganz besonderes Frühlingsgedicht: Möchte ich zum “Blütenfrühling” sagen: “Verweile doch du bist so schön”, muss ich mir sagen lassen “der Wunsch taugt nicht“. Es taugt auch nicht, wenn ich im Reifesommer oder im Früchteherbst – ich schreibe dies in meinem 84. Lebensjahr – den Wert der Alterserscheinungen verkenne und im Kräfteschwund nicht die Reifezeit und in den Minderungen nicht die Mehrung erkenne, zulasse und erbitte.

Nun denn: Der Wonnemonat Mai ist der zwölfte Teil der Jahreszeit. Ich wäre ebenso daneben, wenn ich mir immer Maienzeit wünschte, wie ich daneben wäre, würde ich mich nicht freuen am Blühen und Grünen und Duften. Nur muss ich mir eben sagen lassen, “es taugt nicht” und auch immer wieder, “es taugt“, damit wir zum Wunderbaren und “stets von Neuem zu uns selbst entlassen werden“.

P. Johannes

Foto: Inge Hausen-Müller

Foto: Inge Hausen-Müller