Neu kennenlernen

Kennen wir einander? Kennen wir uns selbst?
Der Weg der Stille führt in den Zweifel, ob dies wirklich so ist. Aber dieser Zweifel ist nicht das Letzte. Es wächst nach und nach eine neue Selbst-er-kennt-nis.
Das passt zu Ostern. Denn seither ist nichts mehr wie es war. Die alten Brillen und die alten Maßstäbe entsprechen nicht mehr der Wirklichkeit, die am leeren Grab Jesu und in der Begegnung mit dem Auferstandenen aufscheint. Ein neues Licht, eine neue Sichtweise sind möglich.

Paulus schreibt im zweiten Brief an die Gemeinde in Korinth: „Einer ist für alle gestorben, deshalb sind alle gestorben. Und so kennen wir von nun an niemand mehr auf nur menschliche Weise. Altes ist vergangen, Neues ist geworden. Wer in Christus ist, ist neue Schöpfung.“

Worte, biblische Worte, die aus einer Erfahrung heraus gesprochen sind. Dieser Ostererfahrung, der Erfahrung grenzenlosen Lebens, nahezukommen, haben wir uns seit Samstag vor Palmsonntag zum Ostersesshin versammelt, in Vallendar. Viele von Ihnen, die Sie das jetzt lesen, wissen: Die Atmosphäre eines Sesshins ist immer neu, immer so, dass Berührung, Wandlung geschieht. In diesem Jahr, dem ersten Ostersesshin nach seinem Tod, ist P. Johannes bei vielen der Teilnehmenden in ganz persönlicher Weise gegenwärtig. So klingt seine Gegenwart im abendlichen Mahnruf mit: „Leben und Tod sind ernste Dinge.“

Wie gewinnen wir Zugang zu dem Leben, das jenseits des „und“ liegt, das Leben und Tod umschließt?
In einem Koan klopft ein Mönch bei einem Beileidsbesuch auf den Sarg und fragt: „Lebendig oder tot?“ Sein Meister antwortet: „Ich sag es nicht, ich sag es nicht.“ Er konnte es nicht sagen. Wenn er es gesagt hätte, wäre es nicht „das“ gewesen.
Dieses Unsagbare und doch so Wirkliche – es hat das Leben der ersten Osterzeugen umgekrempelt und will sich in der Übung der Stille in die Herzen von Menschen im Heute einnisten. Es macht Versöhnungs- und Heilungswege möglich über alles Machen und Wollen hinaus. Es führt zu einem Bewusstsein von Verbundenheit, in der wir über Grenzen hinweg nicht nur mit-, sondern auch voneinander leben. Wir schätzen die Dinge unseres Lebens anders ein, bekommen ein Sensorium für Präsenz, die nicht mit dem bloßen Auge wahrzunehmen ist.

Zusammen mit allen, die in der Stille ein solches neues, österliches Kennen der Realität „lernen“ (der Atem ist ein guter Lehrer!), wünsche ich Ihnen von Herzen die Zuversicht, dass sich hier mehr und mehr eine menschliche Möglichkeit in unserer Zeit auftut. Wir fühlen uns Ihnen verbunden in der Weise, wie Sie Ostern feiern. Schließen Sie sich bitte auch uns an. So, wie es die oft wiederholten Worte von P. Johannes waren: Im Leibe abwesend, im Geiste gegenwärtig!

P. Paul

 

 

Fotos: Inge Hausen-Müller