Meister Mai
Als er kam, brachte er empfänglichen Gemütern eine grünende und blühende Überraschung. Er inspirierte zum Dichten und Singen – und vor allem dazu: Raus aus dem Haus!
Vielleicht entstand der Psalm, in dem es heißt: “Du führst mich hinaus ins Weite” in den ersten Tagen des Monats Mai. Weder kalt noch heiß, erlaubt er leichte Kleidung und geht er mit lauen Lüftenangenehm um die Haut. Reste von Schulwissen kommen noch zu Hilfe, die ungeheure Leistung des Wassertransports bis in die Wipfel der Bäume und das Wandlungsgeschehen durch die Osmose zu bewundern.
Ganz einfach: “Alles neu macht der Mai, macht die Seele frisch und frei” könnte ein Ohrwurm sein – oder auch ein Ärgernis, weil man diesem Monat eine Automatik zum Wohlbefinden andichtet. Mag es auch draußen grünen und blühen – hängt der Haussegen schief, ist es nichts mit “frisch und frei” und nichts mit lustig. Ist dann Meister Mai – so hochgelobt ob all des Neuen und Schönen und mit “Blühen nimmt kein Ende” – ein pädagogischer oder therapeutischer Blender?
Versager oder Genie? Die Antwort hängt davon ab, mit welchem Auge ich sehe, mit welchem Herzen ich fühle. In Sprache der Zen-Kontemplation ist die Rede vom Wesensauge, von Wesensfühlung. In seinem Wahren Wesen ist jeder Mensch ein Genie und befähigt, im Geschehen des Frühlings seine Botschaft zu vernehmen.
Den Beginn des Maimonats erlebten wir in einem Sesshin. Eine optimale Situation, eine Lern- situation, mehr und mehr zu sehen mit dem Auge des Wesens. Ein Goethe-Zitat passt sich dort ein: “Müsset im Naturbetrachten immer eins wie alles achten. Nichts ist drinnen, nichts ist draußen, denn was innen, das ist außen.”
Noch einfacher – und meines Erachtens noch schöner – sagt es “Der kleine Prinz” von Antoine de Saint-Exupéry: “Man sieht nur mit dem Herzen gut.” Das heißt – mit anderen Worten: Man sieht alle Dinge so, wie man sich selber sieht. Vor vielen Jahren hörte ich Karlfried Graf Dürckheim sagen:
“In allen Ereignissen sieht der Mensch sich selbst.”
Heißt das auch: In allem, was mir Meister Mai zeigt und sagt, sehe ich mich selbst? Was zeigt er, was sagt er mir? Es wäre nicht meisterlich, sähe er sich nicht im Blühen auch im Reifen, und auch im Welken und Werden. In der jetzigen sieht er alle Jahreszeiten. Und alle sieht er immer in der jetzigen. “Die Blumen im Frühling – der Mond im Herbst, im Sommer die kühle Brise – im Winter der Schnee! Wenn unnütze Sachen den Geist nicht beschweren, ist dies des Menschen glücklichste Jahreszeit.”, sagt ein Weiser, und er sagt immer dasselbe: Die einzige glückliche Jahreszeit erlebt der Mensch immer und nur im Jetzt.
Auf dem Weg der Zen-Kontemplation und auf jedem Weg, auf dem man sich nicht nur mit vorläufigen Dingen begnügt, sondern allen Ernstes fragt, wohin der Lauf der Dinge und der eigene Lebenslauf eigentlich geht, kommt der Mensch unausweichlich, im besten Sinne notgedrungen zu sich selbst, zu seinem eigenen Wahren Selbst. Wer diesen Weg geht, sieht sich immer klarer im Beginn, Frühlinghaft zu jeder Jahreszeit und in jeder Situation.
Seitdem ich diesen Weg gehe und begleite, auf dem Selbstfindung und Gottfindung immer klarer und faszinierender sich in Einem finden, sehe ich mich mit allen auf dem Weg im steten Beginn. Jeder Mensch ist ein Beginn-Wesen und kann – so lange er noch bei Sinnen ist – beginnen. In seinem Wesens-Ohr kann er immer die Einladung seines Wahren Wesens vernehmen: “Komm, werde eins!” Ja, wenn er dieses “Komm!” seines Innern vernimmt, dann wird ihm die größte Gnade zuteil: “Wenn der äußere Mensch sich auch aufreibt, der innere erneuert sich von Tag zu Tag.”
“Minderungen werden zu Mehrungen”, höre ich immer wieder glückstrahlend von einer Kursteilnehmerin, die sich nur noch mit Gehhilfen bewegen kann. Eins zu werden mit seiner Situation, mit sich selbst, ist die größte Gnade, die einem Menschen zuteilwerden kann. Das Größte zeigt sich zunächst oft als das Unmögliche und als Zumutung auch als ein Ärgernis. Aber darum zu bitten, ist eine Wesensbitte, der Erhörung gewiss. Und es ist noch einmal ein große Gnade, sich beauftragt zu wissen, um diese Gnade für andere zu bitten, besonders für jene, die Schwerstes zu ertragen haben. Auf diesem Wege sind wir nie aus dem Gröbsten raus, und wir können uns von Herzen wünschen, dass wir von Meister Mai die Botschaft vernehmen, dass das Geschehen in der Natur ein Spiegel dessen ist, was in uns geschehen will und ganz gewiss geschehen kann, denn wir haben die Freiheit, eben darum zu bitten, dass dieses Frühlinghafte in uns geschieht. Und da kommen mir doch die Worte in den Sinn, mit denen wir in unserem Grundgebet das Tagesprogramm in einem Sesshin beschließen: “der uns in unendlicher Liebe heiligen und verherrlichen will in Ewigkeit.”
Wenn ich doch Worte und Weisen finden könnte, jedem Menschen zu seinem Selbst-Bewusstsein begleiten zu dürfen, dass er von seinem Wesen her eingeladen ist, zu sich selbst zu kommen, sich immer im Kommen zu sehen, zum Eins-Werden mit sich und mit Gott im steten Beginn – mit Meister Mai.
Wo? Nirgendwo anders, als in uns selbst.
Wann? Immer nur Jetzt.
Das ist “Geheimnis, nicht Faktum”, aber doch “in der ganz normalen Lebenswelt.”
Wie das?
Mit diesem Zitat und dieser Frage möchte ich auf einen Artikel in Christ in der Gegenwart verweisen, dessen Autor dasselbe in einer – wie ich meine – besonders beachtenswerten Klarheit sagt: Geheimnis, nicht Faktum.
P. Johannes