Ganz Ohr werden

hoeren4Es ist wichtig, innezuhalten, zu hören. Gerade in einer Situation, die uns durch wachsende Unsicherheit und Umbrüche Angst macht. Denn was im Makrokosmos, in der großen Welt, geschieht, das spiegelt sich ja im Mikrokosmos, in unserem Inneren – bis hinein in die letzte Zelle des Leibes. Unüberhörbar ruft unsere Zeit nach einem neuen Bewusstsein. Der Übergang dazu erscheint oft wie ein freier Fall, ein Gestoßen-werden ins Niemandsland. Trägt der Grund noch?

Dazu muss ich mich setzen und den Schmerz zulassen – die Traurigkeit über die vielfache Zerstörung von Leben, Hoffnungen, Psychen, Familien, Heimat. Den Mut haben, mich mit diesem Schmerz aus- und hinzuhalten. Mich auszusetzen, ohne zu wissen, ohne die Lösung zu kennen. Das ist Trost – nicht zuerst im Empfangen, sondern im Geben. In der Stille nähre ich das Hoffnungs-Reservoir der Menschheit.

Dabei gilt es, zu lauschen. Auf die vielen Stimmen, die zur Ruhe kommen wollen. Ohnmacht, Hilflosigkeit, Bitterkeit, Resignation, Verwirrung und das unstillbare Bedürfnis nach Sicherheit – all dies ist da und darf es sein.

Wie eine Mutter ihr Kind nehme ich es in die Arme des Schweigens und höre, warte darüber hinaus. Diese Welt, diese Konflikte, diese Heimatlosigkeit von so vielen soll mir zum Koan werden. Hier und an keinem anderen Ort und zu keiner anderen Zeit will die unendliche Wirklichkeit sich ausdrücken, Mensch werden, Barmherzigkeit finden – in mir, durch mein Lauschen hindurch.

hoeren1An einer kleinen Marienkapelle in Würzburg findet sich eine Steinskulptur, welche die Menschwerdung durch die hörende Maria zeigt. Wie auf einer Rutsche bewegt sich das Jesuskind auf das Ohr Mariens zu: „Mir geschehe“.

Mögen wir ganz Ohr werden, gerade in dieser Zeit der „Ankunft“, des Advents. Zwei sich frappierend ähnelnde Texte aus der buddhistischen und der christlichen Tradition können uns vielleicht begleiten und Zuversicht geben. Der eine stammt aus dem Südindien des 8. Jahrhunderts, der andere von Vinzenz Pallotti (1795-1850), dem römischen Gründer meiner Gemeinschaft:

„Möge ich in allen Lebewesen den Schmerz lindern! Möge ich für alle Kranken Heilmittel, Arzt und Pflege sein bis zum Verschwinden der Krankheit! Mein ganzes Hab und Gut im Heute, Gestern und Morgen gebe ich hin, damit alle Lebewesen das ihnen zugedachte Ziel erreichen.“

„Ich möchte Speise werden, um die Hungrigen satt zu machen; Kleidung, um die Nackten zu bedecken; Trank, um die Durstigen zu erfrischen; Arznei, um den Magen der Schwachen zu stärken; ein weiches Bett, damit sich die Müden ausruhen; Heilmittel und Fürsorge, um die Leiden der Kranken, der Lahmen, der Verstümmelten, der Tauben, der Stummen usw. zu lindern; Licht, um die geistlich und leiblich Erblindeten zu erleuchten …“

P. Paul

 

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Fotos: Inge Hausen-Müller (1,3), Wikipedia Commons, Daderot (2)