FAKTUM!

Dieses Wort macht Karriere in „post-faktischer Zeit“ bei angeblich „alternativen Fakten“ einer „anderen“ Wirklichkeit.

Zum ersten Mal bin ich als Jugendlicher über das Wort gestolpert, als wir mit dem Kirchenchor zu weihnachtlicher Zeit das „Transeamus“ sangen: „Transeamus usque Bethlehem et videamus hoc verbum quod factum est” – “Lasst uns hinüberziehen nach Bethlehem und das Wort schauen, das geschehen (oder geworden) ist.“

Das Wort ist wirklich geworden, geschehen: Mensch, Fleisch, Leib, Körper. Das ist doch wohl das erste Faktum, an dem ich nicht vorübergehen kann: mein Leib. Ohne ihn gäbe es mich gar nicht. Selbst die tiefste spirituelle Erfahrung, erst recht auf dem Wege der Zen-Kontemplation, geht über den Leib. Mit ihm komme ich in Kontakt, in Berührung mit der Wirklichkeit. Ihn zu respektieren, seine Gesetzmäßigkeiten zu lernen, das ist für jeden Menschen eine Lernstunde, die ein ganzes Leben dauert. Sie entscheidet mit über Gesundheit und Krankheit, über aufgerichtetes und niedergedrücktes Dasein.

Gott, die unendliche Wirklichkeit, ist im Faktum. „Ehre sei Gott in der Situation“, höre ich immer noch P. Johannes rufen. Die Erkenntnis des Wunderbaren richtet sich nicht auf das Besondere, nicht auf eine geträumte, alternative Welt nach dem Maß meiner Wünsche:
Sie richtet sich aus auf das Konkrete, jetzt Gegenwärtige, auf den “Eichbaum im Garten”, wie es in einem Koan heißt. Wie nur kann ich vorbeigehen an dieser Wahrheit?

Mehr noch: In der Annahme der Wirklichkeit, wie sie ist, wird unsere Seele gesättigt. Unzufriedenheit mit oder Aggression gegen die eigene Situation machen krank. Nur im „Ja-Sagen“ zum „So“ des Lebens findet die oft tief im Herzen sitzende Bitterkeit über das Leben zur Heilung, braucht keine „Ersatzwirklichkeiten“ (= Ideologien) mehr.

Vinzenz Pallotti, den wir im Januar wieder mit einem Zazenkai ehren durften, wusste um die Nahrhaftigkeit der Dinge. So konnte er dazu raten, was er selbst am eigenen Leib erfuhr: „Gott einatmen und Gott ausatmen, Gott IN ALLEM suchen und ihn IN ALLEM finden.“ Im Atmen werden wir, solange wir leben, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, vom Faktum unseres Lebens berührt und durchdrungen; werden wir, die wir oft dem Jetzt davonlaufen, immer wieder zurückgeholt, nach Hause gerufen. So sind wir bereit für die Entdeckungsreise, dass das lebendige Ereignis, dass das Geschehen uns seine verborgenen Geheimnisse preisgibt, enthüllt. Dass wir sehen lernen, mitten im Leben, in Freud und Leid, wie die Dinge zusammen gehören, eins werden und sind.

Was immer auch geschehen wird in diesem Jahr: Einen klaren liebevollen Blick für das Faktum – immer wieder gereinigt in der Stille – wünscht

P. Paul

 

Fotos: Inge Hausen-Müller