Wie auch wir vergeben

An einem der Sonntage im September hörte ich im Gottesdienst die Rede Jesu davon, dass das Reich Gottes zu vergleichen sei mit einem Menschen, der über das gesollte und zumutbare Maß hinaus zur Vergebung bereit ist – und zwar nicht wie in der Frage als Höchstmaß angenommen sieben Mal,.sondern siebenundsiebzig Mal.
Diese Worte des Sonntags-Evangeliums, in denen es wohl nicht um Zahlen, sondern um menschliche Haltung geht, wurden an diesem Sonntag in allen katholischen Kirchen weltweit gesprochen. Sie fielen hinein in die unterschiedlichsten Situationen der Menschen, die sie vernahmen. Sie fielen hinein in erlebte Erdbeben, Überschwemmungen, in Kriege und Migrations-Bewegungen, in persönliches wie auch in globales Unrecht. Gerade Letzteres wird mittlerweile vielen dringlich bewusst, die dies bisher nur aus der Ferne kannten und es weit von sich weg schoben.
Ungleichheit, Ungerechtigkeit zeigen sich in einem bisher nicht gekannten Ausmaß.
Nicht umsonst kennt die Tradition den Begriff des „mysterium iniquitatis – Geheimnis der Ungleichheit, der Ungerechtigkeit“, oft auch mit „Geheimnis des Bösen“ übersetzt.
Haben „Vergeben können“ und globales Unrecht etwas miteinander zu tun?

Sowohl das Christentum wie auch der Buddhismus wissen um die menschliche Misere in ihrer Schuld-Verstrickung. Es ist wie ein Netz, das über den Menschen gebreitet, diesen erdrückt und ihn zu einer Verkrümmung in sich selbst führt, ihn unfrei macht. Zu den Folgen gehören neben Isolation, ego-zentriertem Handeln, Gewalt, Depression, Krankheit auch die Blindheit gegenüber dem eigenen Schuld-Anteil und damit die Weigerung, sich damit auseinander zu setzen. Gerade dazu aber müssten Christen eigentlich als erste den Mut aufbringen, beten sie doch in großer Regelmäßigkeit das Vater-Unser: Vergib uns – wie auch wir vergeben.

Das erste ist die Bitte. Sie setzt voraus, dass da etwas ist, was auf Vergebung wartet -Vergebung, die ich nicht machen, nicht mir selbst geben kann. Diese Bitte, dieses Eingeständnis fällt schwer. Schwerer als die Erwartung an die Mitmenschen, sie sollten doch – bitte schön – mich um Verzeihung bitten für das, was sie mir angetan haben. Und da ist sie wieder: die Verkrümmung in mir selbst. Die Angst davor, schwach zu erscheinen, Fehler einzugestehen, nicht perfekt zu sein. Jemand muss beginnen, warum nicht ich?
Es geht ja nicht um Lappalien, es geht um nichts weniger als Befreiung zum Leben. Denn wer will, der kann in unserer Zeit sehen, was unerlöste Schuld mit einem Leben macht. Wir wissen darum, wie Lebens-Knoten und -Lasten unserer Vorfahren in unseren Genen stecken; wie nicht eingestandene „Ver-gehen“ sich bis ins Körperliche auswirken, in Krankheit, Verspannungen, Schlafproblemen und mehr noch, der Unfreiheit, ich selbst zu sein.

Das alles klingt sehr ernst. Zu ernst, fast wie in vergangenen Zeiten, als Frohbotschaft vor allem Drohbotschaft war, Glaube und schlechtes Gewissen zusammengehörten. Sich dagegen zu wehren, ist berechtigt, löst jedoch die grundsätzliche Frage nach Schuld und Vergebung nicht auf.
Kein spiritueller Weg führt daran vorbei. Und es ist kein fatales Schicksal. Im Gegenteil: Es ist eine Riesen-Chance, die es zu be- und umgreifen gilt! Als die Möglichkeit, die im pendelnden Gleichgewicht der VaterUnser-Bitte angelegt ist: zu vergeben und Vergebung zu empfangen. Das ist wie das Atmen in der Meditation: Aus und Ein, mich verschenken und mich tiefer geschenkt bekommen. Und dies nicht abgemessen, sondern maßlos, nicht sieben Mal, sondern siebenundsiebzig Mal.
Es gehört zur menschlichen Freiheit dazu, über das „Wie-du-mir, so-ich-dir“ hinaus zu gehen – sich zu geben, zu vergeben ohne den Anspruch, dass diese Gabe – jedenfalls nicht sofort und direkt – erwidert wird. Wieder der Vergleich mit dem Atem:
Je tiefer ich mich in den Atem einlasse, umso mehr bin ich dafür bereit, den Atem in mir geschehen zu lassen. Atem und Vergebung befreien. Sie entlasten. Sie öffnen unsere Welt für eine Dynamik, die sie als Medizin dringend braucht, eine wachsende Erkenntnis des Einsseins gegen alle Mauern, gegen alles, was Menschen einander vorzuwerfen haben.

Natürlich ist dieser Akt menschlicher Freiheit nicht selbstverständlich, nicht einfach. Sonst würden Menschen sich ja nicht so schwertun damit. Manchmal ist eine Aussöhnung nicht möglich, vielleicht noch nicht, vielleicht nur über die Schwelle des Todes hinweg. Aber auch dann ist die Bereitschaft zu verstehen, nicht nachzutragen, es gut sein zu lassen, wie ein Katalysator, der in die Lage versetzt, sich selbst in der eigenen Begrenztheit in den Blick zu bekommen und anzunehmen. Auch hier wieder ergänzen sich Meditation und Vergebung: Die auf dem Weg der Stille geforderte Annahme der Situation, die Annahme des Jetzt-Eigenen ist oft auch die Annahme, dass mir vergeben worden ist und vergeben wird.
Christen können hier aus der Botschaft Jesu schöpfen, die er mit seinem eigenen Leben und Sterben bezeugt hat. Der Schuldschein gegen uns wurde aufgehoben und ans Kreuz geheftet, heißt es im Brief an die Kolosser. Dann aber heißt es, dieses Geschenk anzunehmen und – umsonst, wie ich es empfangen habe – weiterzugeben. Das ist Glaube und Vertrauen. Das ist es, wenn ich mich setze und mich meinem Grund überlasse.
Wenn ein Mensch dies realisiert, dann tut er es für die Menschheit, für das Universum. Dann begibt er sich hinein in Verstrickungen, die sein eigenes Bewusstsein übersteigen. Und so wie er um Vergebung bittet für alle Menschen, so wird er in der Lage sein, auch für alle Menschen zu empfangen. Und damit bietet sich hier gerade für den Meditierenden, motiviert von der Sehnsucht nach Einssein, eine kostbare Möglichkeit: ein Dienst am gemeinsamen Überleben der Menschen in schwieriger Zeit. Zugleich ist es im Sesshin ohne Ende, im Alltag, die Herausforderung der kleinen Querelen und Konflikte, wo sich Haltung ins konkrete Tun umsetzt.

P. Paul
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Fotos Inge Hausen-Müller