Wach gerüttelt

Es ist uns vertraut: Beim abendlichen Mahnruf eines Sesshins steht der Assistent/die Assistentin im Eingang des Zendo und ruft: Seid wachsam! Jetzt aber ruft die ganze Welt: Seid wachsam! Bei vielen Menschen geht der Ruf unter die Haut, wirbelt Sicherheiten durcheinander, macht Planungen zunichte, rüttelt und schüttelt.
„Ich kenne mich nicht mehr aus, muss schauen, wohin der nächste Schritt führt, was rechts und links ist“, sagte mir jemand. Wie hineingedrückt, „gepusht“ ins „Nur Jetzt“.

Heute, da ich dies schreibe, ist der kirchliche Festtag „Maria Verkündigung“, 25. März – neun Monate vor Weihnachten. Maria erhält die Verheißung des Geistes, der in ihr Fleisch annehmen soll. Sie weiß nicht, wie ihr geschieht, wie das gehen soll. Von „Überschatten“ ist die Rede – gar nicht unähnlich dem, was wir heute „Schattenarbeit“ nennen. Zurückgeworfen auf uns selbst, schauen wir in den eigenen Spiegel – herausgefordert, uns anzunehmen, ganz und gar.

Wie ein roter Faden ziehen sich durch die Bibel Geschichten, in denen Gott Menschen ins Ungewisse sendet. Abraham, Mose, Elija, Jesus der Gekreuzigte, Paulus… Ohne doppelten Boden, ohne Rückfahrkarte. Glauben als Antwort auf diesen Ruf besteht darin,  den Ruf zu hören und die Ungewissheit auszuhalten.

Das ist nicht einfach, auch nicht in der jetzigen Situation: Es gibt so viele Versuche, wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen, die Sache wieder in den Griff zu bekommen. Zahllose Texte und Bilder fluten zurzeit das Netz, die, gut gemeint, helfen wollen – bis hin zu Vorstellungen, wie sich wohl unsere Welt „danach“ geändert haben wird. Bis hin auch zu der sich steigernden Abhängigkeit von stets neuen, aktuellen Informationen, wie sich die Krise weltweit entwickelt.

Wie wäre es stattdessen, in der Weite des „Ich weiß es nicht“ zu bleiben? Kann ich der Versuchung eines vermeintlich sicheren Wissens widerstehen, das sich vielleicht schon morgen als trügerisch erweist?
Die Devise ist: Stay at home, bleib zu Hause, „lebe innen“, wie eine Tageszeitung mehrdeutig titelte. Das heißt: Zuflucht nehmen, mich binden und verwurzeln in der Wirklichkeit, die bleibt und aus der heraus ein erneuertes menschliches, globales und solidarisches Bewusstsein werden will. Und in diesem Bewusstsein leben und handeln, immer wieder jetzt, jetzt, jetzt …

Mitten in dieser Zeit, am 20. März, ist Willigis Jäger gestorben. Gemeinsam mit P. Johannes war er Schüler von Yamada Roshi in Kamakura. Auch wenn sich ihre Wege trennten, P. Johannes sprach in Hochachtung von seiner Fähigkeit, Menschen in die Stille zur Erfahrung grenzenloser Weite zu führen, die wir als unendliche Liebe ansprechen. Unzählige Menschen vertrauten sich seiner Führung an. Sein Tod und seine Beisetzung in aller Stille sprechen zu Herzen. Wir sind verbunden mit der großen Gemeinschaft derer, die sein Werk fortsetzen.

Was also tun oder nicht tun? Vielleicht war es noch nie so wichtig wie heute, dass wir uns in die Stille setzen und uns dabei einander verbunden wissen. Gerade zu den Zeiten, in denen wir sonst miteinander meditieren, wird das Vertrauen, nicht allein zu sein, zu einer großen Hilfe: „… und schließen die ganze Schöpfung ein.“
Auch Gespräche sind wertvoll. Sollten Sie mit einem der Zen-Lehrer persönlichen Kontakt über Telefon aufnehmen wollen, melden Sie sich im Büro. Dort werden wir Ihnen gerne einen Termin vermitteln.

Von ganz besonderer Bedeutung wird in diesem Jahr das Oster-Sesshin sein. Wie können wir unter den gegebenen Umständen diese Mitte unseres christlichen Glaubens leben? Schon jetzt eine herzliche Einladung an alle, sich in den Tagen der Karwoche in die Stille zu begeben, je nach den Möglichkeiten der eigenen Situation. Wir werden auf dieser Seite noch Kernzeiten des Sitzens, Zugangswege zu Impulsen und Kontaktmöglichkeiten beschreiben. Wichtiger ist jedoch noch: Lassen wir zu, dass es geschieht in uns, dass wir uns dem Rütteln nicht widersetzen, nicht davor weglaufen. Dass wir doch neu sehen lernen – die grenzenlose Würde und Schönheit des Lebens mitten in der Verletzlichkeit und Gefährdung all dessen, was oft so „selbstverständlich“ scheint.

Bleiben wir – auf dem Weg!
P. Paul
prheinbay@pthv.de

Fotos Inge Hausen-Müller