Seid wachsam!

An jedem Abend im Sesshin erreicht die Teilnehmer zum Ende des gemeinsamen Programms dieser Weckruf. Denn darum geht es im Zendo und beim „Sesshin ohne Ende“, allen Ernstes: in jedem Augenblick die Aufmerksamkeit auf das wahre Wesen zu richten, sich nicht verwirren und verführen zu lassen.
Wunderschön führt dies ein innerer Dialog aus einem Koan vor Augen:
Meister Zuigan pflegte jeden Tag sich selbst zuzurufen: “Meister!” und zu antworten: “Ja!” Dann rief er erneut: “Ganz wach! Ganz wach!” Und antwortete: “Ja! Ja!” – “Lass dich nicht von anderen täuschen, an keinem Tag, zu keiner Zeit!” – “Nein! Nein!” (Mumonkan 12)

Was aber meint Zuigan mit „von anderen täuschen“?
Es ist das verwirrende „Gras“ im eigenen Inneren, das Gestrüpp der Gedanken und Impulse. Damit hatte der Meister wohl auch seine Erfahrungen, so dass er „jeden Tag“ sich in die Aufmerksamkeit des Jetzt hinein rief. Es sind die Bedürfnisse, Ansprüche und Wertungen, die ununterbrochen im Menschen „produziert“ werden, sich melden und versuchen, Impulse fürs Handeln zu geben.
Selbst da, wo das Ego schon lange als „Gaukler“, als leer und substanzlos, erkannt wurde, hört es noch nicht auf, sich aufzuspielen im Umgang mit Erlebnissen, Erinnerungen, Verletzungen und Schmerzen, Druck und Belastung, Macht und Ohnmacht.

Wenn in einem Sesshin die Mauern des Ego heruntergefahren sind, entlarvt sich diese „Dramaturgie“. In der erfahrenen Machtlosigkeit der Stille öffnet sich der Weg in eine neue Freiheit des „nicht Besonderen“, einer Annahme des Lebens, die nicht weiteres Leiden hervor ruft, nicht bei mir selbst, nicht bei den Menschen, mit denen ich das Leben teile, anstatt sie zu „benutzen“.

„Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein.“ Dieser Vers aus dem Matthäus-Evangelium (20,25-26) ist ein authentisches Wort Jesu an seine Jünger, nachdem zwei von ihnen um eine besondere Stellung in seiner Nähe gebeten hatten und damit (natürlich!) die anderen Jünger verärgerten. Die entschiedene Reaktion Jesu leitet sich ab von seinem Selbstverständnis über Macht: Er sei gekommen, nicht um bedient zu werden, sondern um zu dienen, sich zu geben, sich zu verschenken. So werden die in unserer Sicht Letzten in seinem Reich die Ersten sein.
Damit ist Macht neu umschrieben: als Dienst. Dagegen steht die Instrumentalisierung anderer für die eigenen Ziele und Bedürfnisse – der Missbrauch. Je sensibler die Stille uns auch in die feinen und sonst verdeckten Ränkespiele des Ego hinein führt, desto wichtiger ist hier das Ja-Ja und Nein-Nein von Meister Zuigan. Ähnliches gilt für Strukturen in unserem Miteinander, welche genau das erleichtern und verdecken, dass nämlich Menschen einander egoistisch „gebrauchen“.

Jede Übergriffs- und Missbrauchsgeschichte in spirituellen und religiösen Gemeinschaften ist erschreckend. Seid wachsam! ist der Aufruf, hellhörig zu sein für Stimmen, welche ein solches Geschehen bagatellisieren, verschweigen oder rechtfertigen wollen. Das gilt auf der persönlichen wie auch auf der Ebene des Miteinanders. Nur so können wir Verletzungen verhindern, die Menschen – gerade in der Empfindsamkeit eines inneren Weges – einander zufügen.

Und zugleich fühle ich mich gedrängt, um Vergebung zu bitten für all das, was mir – da jede Aufmerksamkeit unvollkommen ist – nicht bewusst ist. Was wären wir Menschen ohne diese gegenseitige Bitte und ohne die Zuversicht, dass aus vergebener Schuld und heilenden Wunden neues Leben entstehen will – grenzenlos, über den Tod hinaus!

P. Paul

 

Fotos: Inge Hausen-Müller