Kein Aug’ hat je gespürt …

Weihnacht ist das Fest des Spürens. Schauen, berührt werden, innehalten, wenn auch nur kurz. Das ist so. Nicht nur bei den Frommen.
Denn hier geht es um das Ganze, das Heile – das Heil des Menschen schlechthin.
Im Kind wird die oft so undurchsichtige, dicke Wand zu dem, was es mit unserem Menschsein auf sich hat – dünner, durchsichtiger. Das Licht von der anderen Seite – die ja doch untrennbar verbunden ist mit dieser Seite, mit der konkreten Situation – strahlt durch, das Lächeln steckt an. Natürlich werden diese Momente oft überlagert durch all die vielen Erwartungen und Traditionen – durch all das, was irgendwie mit diesem Fest verbunden sein „muss“. Aber dennoch: Sie sind da, diese Augenblicke, in denen das Auge spürt.

Wunderbar, diese Zeilen aus dem schon weihnachtlich gestimmten Adventslied „Wachet auf!“:

Zion hört die Wächter singen
Das Herz tut ihr vor Freude springen
Sie wachet und steht eilend auf
Ihr Freund kommt vom Himmel prächtig
Von Gnaden stark, von Wahrheit mächtig
Ihr Licht wird hell, ihr Stern geht auf

Kein Aug hat je gespürt
Kein Ohr hat mehr gehört
Solche Freude
Des jauchzen wir und singen dir
das Halleluja für und für.

Was wir da sehend spüren – und es will gelernt und geübt sein, so zu schauen – steht nur scheinbar im Widerspruch zur Zerrissenheit, einem Grundgefühl, das für viele Menschen bestimmend geworden ist im Blick auf Gesellschaft, weltweite Gemeinschaft und oft auch das eigene Leben. Es ist eine Frage der Freiheit, dass wir das eigentliche Weihnachtsgeschenk und damit die darin enthaltene Kraft annehmen.
So schreibt P. Johannes in einem seiner letzten, jetzt als Büchlein erschienen Schrift:

Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ist in immer unbegreiflicher Weise das Ereignis der Weltgeschichte, das an Bedeutung alle Ereignisse überstrahlt: Dies ist kein naturgesetzliches Geschehen wie die erste Schöpfung. Die Neue Schöpfung ist ein Angebot an alle, die bereit sind, sich darauf einzulassen.
Der Mensch ist eingeladen, das Wandlungsgeschehen der Menschwerdung anzunehmen, und dies in vollem Respekt vor seiner Freiheit. Diese kann auch dazu führen, das Angebot abzulehnen. Begibt sich jedoch ein Mensch in dieses Geheimnis hinein, entsteht eine Dynamik, die dahin führt, die Welt mit anderen Augen zu sehen.

Ich danke allen, die in unserem Programm der Sehschule sich herzlich immer wieder neu auf die Suche begeben nach dem Neuen, das im Hintergrund, im „Remote-Bereich“ schon da ist und besonders in diesen Tagen darauf wartet, gesehen und gespürt zu werden. Seien Sie eingeschlossen in unser Sesshin, das uns ins Neue Jahr geleiten wird. Gemeinsam mit ihnen wünsche ich, dass doch viele Menschen sich ergreifen und ihrem Leben neuen Sinn geben lassen; dass wir inmitten aller Bedrängnisse mit- und füreinander viele kleine Räume des Aufatmens und der Freude bauen.

Frohe und gesegnete WeihNacht!

P. Paul

 

Fotos: Inge Hausen-Müller