In die Krippe schauen
Wen siehst du, wenn du in die Krippe schaust? Gott. In aller menschlichen Unvollkommenheit, Begrenztheit und Demut, und dennoch: Den ganzen unendlichen Gott. Du siehst die grenzenlose Wirklichkeit, wie sie sich mitteilt, wie sie überfließt, wie das Formlose Gestalt wird in diesem Menschen Jesus. Wie das Meer unzähliger Möglichkeiten sich verkörpert in Raum und Zeit, sich manifestiert, greif- und sichtbar wird. Wie dieser Mensch Jesus Ausdruck der unbedingten, sich verschenkenden Liebe ist und einmal diese Liebe erwidern wird, sich zurückgeben wird, bis in die Hingabe seiner selbst am Kreuz. Wie dieser Mensch einmal von sich selber sagen wird: „Ich und der Vater sind eins.“
Wen siehst du, wenn du in die Krippe schaust? Dich selbst. Du wirst angezogen von dem, dessen Bild und Gleichnis du bist. „Die unendliche Wirklichkeit ist in Dir.“ In jedem Menschen, also auch in Dir, wird Gott Mensch, mit dem einzigen Ziel: dass der Mensch Gott werde, sich seiner nicht messbaren Würde bewusst werde und diese in Liebe verwirkliche. Diese zu verwirklichen, das heißt einzutauchen in den Fluss göttlicher Selbstoffenbarung, in die Dynamik der neuen Schöpfung, die nicht aufhört, Neues zu kreieren, menschlich Undenkbares möglich zu machen. Die einzige Zutrittsbedingung dafür ist Empfänglichkeit, die Bereitschaft, DAS Geschenk anzunehmen, mich selbst, so. Und in mir den Bruder, die Schwester, die Menschen, den Kosmos. Gott ist Mensch geworden, das heißt ja auch: Er ist dein Nächster / deine Nächste geworden.
Was ist das für eine Krippe, in die du schaust? Es ist jene, die nicht an das Weihnachtsfest gebunden ist. Sie ist diese, welche du siehst, wenn du in dich gehst. Dieses „in dich“ ist kein gedachter, ideeller Ort. Es spricht dich an mit deinem Leib und deiner Situation, mit deinen Gefühlen und deiner Lebensgeschichte. „Gott ist Fleisch geworden.“ Allzu oft will der Mensch dieses Geschenk nicht, setzt eine Grenze zwischen Gott und sich selbst, zwischen Zeit und Ewigkeit. In sich Gott zuzulassen, das bedeutet hinauszugehen aus dem Ego-Zentrum, sich zu vergessen, sich zu verlieren, um sich neu zu finden, nicht in einem Etwas, sondern im Ganzen, in der Verbundenheit der ganzen Schöpfung.
Wie also geschieht Weihnacht in dir? Wie kann es sein, dass Unendliches und Endliches zusammen kommen, sich verbinden? Dazu braucht es wohl einen anderen Blick, weg von der Wahrnehmung der Wirklichkeit als statisches, stabiles, festes „Sein“ hin zu einem aus grenzenlosen Möglichkeiten heraus entstehendem „Werden“. „Sein“ verführt zum Haben- und Festhalten-Wollen, „Werden“ lässt sich nicht festhalten, es geschieht einfach mitten im Loslassen. Loslassen und neu werden sind die Triebkräfte des Lebens, die dazu einladen, dass ich mich ihnen anvertraue. Oft ist es nicht einfach, das Motiv des Vertrauens in sich zu spüren und wachsen zu lassen. Vielleicht ist Weihnachten ein Fest, in dem genau dies geschieht und zwar über alle Grenzen von Religionen, Nationalitäten und Sprachen hinweg.
Was könnte daraus resultieren, ganz praktisch? Es ist unsere Sprache, die uns oft verrät. Mit scheinbar sicher gewussten Begriffen und „das ist so“ – Formulierungen ziehen wir Grenzen gegenüber dem, was in aller Offenheit werden will. Es muss gar nicht „Haß-Sprache“ sein. Es ist der subjektive Blick, der sich so gern absolut setzt. Achten wir doch auf unsere Formulierungen, dass sie nicht aus- sondern einschließen, dass sie bereit sind für das Neue, was gerade im Entstehen ist.
In einer Zeit rapiden Wandels, der vielfach zu Unsicherheit und Zweifel führt, ist mein Weihnachtswunsch, dass viele Menschen durch den Blick in die Krippe Vertrauen fassen mögen in die Kraft unbesiegbarer Liebe; Vertrauen, um den nächsten Schritt zum Frieden zu wagen.
P. Paul
