Demaskierung
Das Wort begegnete mir zum ersten Mal als Titel eines Theaterstückes über Vinzenz Pallotti. Von ihm gibt es kein Gemälde, auch kein Foto, nur eine Totenmaske. Und zu seinen Lebzeiten – in den Jahren 1835/7 – grassierte in Rom die Cholera, wurden die so beliebten Umzüge von Maskierten öffentlich verboten. Pallotti und seine Mitbrüder machten sich einen Namen durch karitative Sammlungen und Hausbesuche bei Infizierten. Die ersten Anfänge seiner Gründung gehen just in diese Zeit zurück.
Je mehr ich über das Wort „Demaskierung“ nachsinne, desto treffender scheint es mir zu sein für innerkirchliche Vorgänge, aber auch für gesellschaftliche Gräben, aufgedeckt in einer Zeit von Schutzmasken und Freiheitseinschränkungen. Wo stehen wir hier als Meditationsprogramm, das sich seit seiner Gründung vor 50 Jahren immer als kirchlich und zugleich offen und einladend für alle Menschen guten Willens verstanden hat? Natürlich will ich hier keine Antwort präsentieren, die vereinnahmend für alle gelten soll. Ich kann und will lediglich hinweisen auf eine Spur, die Vinzenz Pallotti gelegt hat und die bis heute in unseren Sesshins jeden Tag angesprochen wird.
Viele von Ihnen wissen, dass P. Johannes zeitgleich mit seinen ersten Aufenthalten in Japan Vinzenz Pallotti als Mystiker entdeckte. Er las die Gebetsschrift „Gott die unendliche Liebe“ und fand etliche Parallelen zu in Zen-Literatur festgehaltenen Erfahrungen der absoluten Wirklichkeit. So entstand in Anlehnung an Formulierungen Pallottis, was wir am Beginn und Ende unserer gemeinsamen Stille-Übungen als „Grundgebet“ sprechen. An den traditionsreichen Text der Gelöbnisse, der mit Zen-Praktizierenden auf der ganzen Erde verbindet, fügte P. Johannes noch Worte Pallottis an, die zunächst oft für Irritation sorgen: „in vollkommenem Misstrauen auf mich selbst und in vollkommenem Vertrauen auf die Gnade Gottes in meinem wahren Selbst durch Christus unseren Herrn“. Es kommen mir diese Worte vor wie eine christliche Ergänzung zum abendlichen Mahnruf „Seid wachsam!“. Wachsamkeit und Lebendigkeit als ein „in der Mitte stehen“ zwischen kleinem, begrenzten und großem, grenzenlosen Selbst. So drücken diese Worte die Bereitschaft aus, sich immer wieder neu demaskieren zu lassen, die unzähligen Masken abzulegen, die den Blick auf unser Wesen verstellen und die verhindern, dass wir uns in dessen Einflussbereich hineinbegeben. Diese Mitte geht über den scheinbaren Gegensatz von Misstrauen und Vertrauen hinaus, sie enthält beides und ist dennoch mehr.
Kann dies helfen, in der eigenen Situation und in den Fragen dieser Zeit die Dinge recht zu sehen? Ja, und es kommt noch etwas hinzu: Der Weg der Zen-Kontemplation führt immer mehr dahin, den eigenen Blickwinkel zu weiten, das Ganze in den Blick zu bekommen. “Nicht-etwas” – wie das Zen-Wort „Leere“ annäherungsweise zu übersetzen ist. Sich zu sehen „im“ Ganzen, das wird mehr und mehr aufleuchten lassen, was wahr ist und – ganz konkret –, was jetzt zu tun ist. Dann wird das Gespür, recht gehandelt zu haben, zum Rechten weiterführen. Und genauso wird ein irriger Schritt zur Umkehr bewegen, ohne in alte und abgelegte Weisen der Selbstverurteilung zu verfallen.
P. Johannes war überzeugt, dass Vinzenz Pallotti seine berührenden Gotteserfahrungen für unser Programm fruchtbar macht. Wir durften dies bei unserem Zazenkai im Januar im Haus am Turm als wahr erleben. Auch in – jetzt schon nicht mehr ganz so – fremder Umgebung ist die Stille heilsam und ausrichtend. Ich bin sehr dankbar für die Begegnungen unseres Programms in der Stille – ob in Präsenz oder online – und wünsche uns, dass wir so einen kleinen Beitrag leisten können zum Frieden unserer kleinen und großen Welt.
P. Paul