Allerseelen – die Seelen schweben!

Allerseelen feiert bald tausendjährigen Geburtstag. Anfang des 11. Jahrhunderts wurde das Fest in der berühmten burgundischen Benediktinerabtei Cluny von Abt Odilo neu eingeführt. Seit dem 14. Jahrhundert wird Allerseelen als Festtag in der gesamten katholischen Kirche gefeiert.
An Allerseelen erinnern wir uns an die Verstorbenen, genauer an die Seelen der Verstorbenen. Nach traditioneller Vorstellung lebt die Seele nach dem leiblichen Tod weiter. Nach Eintritt des Todes entweicht die nicht-materielle Seele mit dem letzten Atemzug aus dem Mund des Sterbenden und geht zu Gott.

Sehr lange war Gott im theologischen Denken über Tod und Ewigkeit der strafende Richter, der alles sieht, vor allem den Menschen in seiner Sünde, seinem Versagen, seiner Schuld. Der Mensch erfährt dann im persönlichen Gericht die Gerechtigkeit, die er verdient.
Das Zweite Vatikanische Konzil (1962 –1965) veränderte das katholische Gottesbild vollständig. Aus dem Gott, der außerhalb von uns ist – als Gegenüber, der uns beobachtet, kontrolliert, wurde

  • ein Gott der Liebe, der mitten unter uns ist,
  • der in Jesus Christus den Weg des Lebens mit uns geht,
  • der im Heiligen Geist in uns gegenwärtig ist und uns auf dem Weg zu unserer Vollendung begleitet und stärkt.

Der Glaube wandelte sich von einem Für-wahr-halten von Glaubenssätzen und dem Einhalten moralischer Gebote in das Vertrauen in die unendliche Barmherzigkeit eines grenzenlos Liebenden. Im Tod begegnet der Mensch diesem Gott, der Liebe ist, der  ihn so annimmt, wie er ist. In dieser Begegnung kann der Mensch sein gelebtes Leben erkennen und sich selbst ganz und gar durchschauen – wer er ist und wie er gelebt hat. Alle Masken fallen, alle Unklarheit verschwindet. Wir erfahren dann auch die nicht-gelebten Anteilen unserer irdischen Existenz, den offen gebliebenen Rechnungen, der nicht verziehenen Schuld, eigenem Scheitern und Versagen, den unerfüllt gebliebenen Hoffnungen …
Wir lassen uns nach diesem theologisch-spirituellen Denken in der Begegnung mit dem gütigen Vater heil machen – mit uns selbst, in unseren Beziehungen zu anderen Menschen, in unserem Verhältnis zu Gott. Das Gericht Gottes wird zu einem Ort der Reinigung und der Befreiung von aller Last und Bedrängnis. Von aller Beschwernis geläutert gehen wir unserer Vollendung entgegen.

In der Liturgie vom Tage heißt es: „Wann darf ich kommen vor Gottes Angesicht? Sende dein Licht und deine Wahrheit, damit sie mich leiten, sie sollen mich bringen zu deinem heiligen Berg und zu deiner Wohnung“ (Ps. 42.43)

Ein Bild von Hieronymus Bosch „Der Aufstieg der Seligen ins Paradies“ zeigt den von allem Negativen befreiten Menschen, der in die Herrlichkeit, den Lichtkranz Gottes schwebt. Von Engeln begleitet kommen sie aus der Dunkelheit, schweben in einen Lichtkegel, in dessen Mitte ein strahlender Lichtkranz auf die ankommenden Menschen wartet. Diese schweben ins Licht hinein!

Nach der Lehre des 2. Vatikanums werden die Menschen und die Welt in Christus vollkommen erneuert – unwiderruflich. In unserer Zeit ist diese Erneuerung und Verwandlung in gewisser Weise wirklich vorweggenommen. Die Verwandlung und Vollendung in Christus ist jetzt schon da – als Geheimnis. (vgl. LG48, GS 39). Dieses Geheimnis wahrzunehmen, zu erspüren und erfahren, ist ein Ansatz für die Zen-Kontemplation. Für uns ist dieses Geheimnis die absolute Präsenz in der Stille, in der Leere, im Loslassen. Die Praxis des Zazen ist ein Weg, dem Geheimnis zu begegnen.

Ich greife das Bild einer Tänzerin auf, die schwebt, auf einem Balken ihren Körper bewegt, künstlerisch, elegant, anziehend. Schwebebalken! Um schweben zu können, muss sie  ihr Gleichgewicht wahren, ganz konzentriert die einzelnen Schritte machen und vor allem Gegenwärtigsein im Augenblick –  auf dem Balken.

Schweben als Grundhaltung auf dem Zen-Weg bedeutet für mich das Gleichgewicht halten, das Gleichgewicht zwischen Vertrauen und Wagnis. Das Vertrauen zu mir selbst, das Vertrauen, dass ich nicht abstürze, untergehe, das Vertrauen in die unendliche Wirklichkeit. Ich weiß mich getragen und geliebt im Glauben, der Heilige Geist ist in mir. Das Wagnis, vermeintliche Sicherheiten aufzugeben, so dass das scheinbar Sichere ins Wanken oder in die Schwebe gerät oder einstürzt.
Ich lasse mich auf dem Zen-Weg darauf ein, dass nichts sicher ist – was von außen kommt. Weltanschauungen, Vorbilder, weise Worte, Versprechungen. Ich lasse mich auf den Geist der Leere ein, erlebe meine Ungesichertheit des Nicht-Anhaftens.

Ich gehe hinein in die Wolke des Nicht-Wissens,
durchschreite den Nebel des Nicht-Wollens,
verlasse mich auf meine eigene unmittelbare Erfahrung,
vertraue auf die unendliche Wirklichkeit in mir
und lasse mich ein auf das Licht,
an das ich glaube,
auf das ich hoffe,
das mir in Liebe entgegeneilt
und mich anspornt weiterzugehen.

Im Herz-Sutra heißt es:
Weitergehen, weitergehen,
ans andere Ufer weitergehen,
ins Licht hinein.

Uwe Christoffer, Koblenz

Fotos: Inge Hausen-Müller